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Balance ist kein Dauerzustand

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FamilyNEXT - Sept. 2020

Es ist ein erstrebenswertes Ziel, seine Lebensbalance zu finden. Aber es ist auch ein Ziel, das immer wieder neu angegangen wird. Denn Balance ist kein Dauerzustand, meint Christina Ott.

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Das wäre großartig: Wenn wir die Lebensbalance finden und dann diesen Bereich zufrieden abhaken könnten. Check – Erledigt! Aber das Leben funktioniert so nicht. Es ist ähnlich wie in der Partnerschaft. Auch hier bleibt die Herausforderung bestehen, die Beziehung lebendig zu erhalten, wenn wir den Partner oder die Partnerin fürs Leben gefunden haben. Mit der Lebensbalance verhält es sich ähnlich. Die Lebensbalace „finden“ bedeutet immer wieder neu ausprobieren, justieren, dazulernen, neu anfangen und sich weiterentwickeln. Es ist eine lebenslange Aufgabe für jeden von uns.
Ich sehe einen Kellner vor mir. Der freundliche junge Mann trägt ein großes Tablett. Darauf balanciert er verschiedene Getränke: Cola, Wasser, Caffè Latte, Espresso und große Bierhumpen. Freundlich plaudernd teilt er die bestellten Getränke an den Tischen aus. Wie macht er das bloß? Ich staune nicht nur über seine Fähigkeit, sich zu erinnern, welche Bestellung zu welchem Kunden gehört. Mich fasziniert ebenso, wie er die Getränke vom Tablett nimmt, ohne dass alles in Schieflage gerät oder gar abstürzt. Erfahrene Kellner sagten mir, der Trick bestünde darin, das Tablett schon vorausschauend in der Reihenfolge des Austeilens zu bestücken. Und beim Halten das Gewicht des Tabletts in Richtung Körper zu verlagern, sodass ein Abfangen leichter gelingen kann. Schwierig wird es nur, wenn die übereifrige Kundschaft helfen will und selbst etwas vom Tablett nimmt. Durch ausdauerndes Training und nach einigen Missgeschicken wird ein erfahrener Kellner aber auch das meistern können.

Herausgefallen aus der großen Balance

Die Balance als dauerhaften Zustand zu finden, ist in unserm Leben nicht mehr möglich. Nicht mehr, nachdem wir Menschen aus der großen Balance herausgefallen sind, die Gott vorgesehen hatte. Genaugenommen haben wir uns selbst herauskatapultiert, wie die Texte am Anfang der Bibel erzählen. Die Geschichte vom „Sündenfall“ könnte man zumindest so verstehen. Als Folge dessen werden die Mühseligkeit des Broterwerbs und die Schmerzen der Mutterschaft angesprochen.
In den Grundzügen trifft das heute noch zu. Obwohl wir nicht mehr mühsam unsere Grundnahrungsmittel anbauen und gegen Disteln und Dornen kämpfen, kann die Arbeit in der Firma oder im Homeoffice kräfteraubend sein. Auch die Geburt geht heute wesentlich schmerzärmer und sicherer vonstatten. Gleichzeitig bleibt mancher seelische Schmerz mit dem Muttersein verbunden. Vielleicht um die vertanen Chancen unserer jugendlichen Kinder und das nicht geschaffte Abitur oder um die gefühlte Leere, nachdem ein Kind unser Haus verlassen hat.

Nur für einen kurzen Augenblick

Dr. Kara Powell, Direktorin des Fuller Youth Institute in Los Angeles, spricht in ihrem Buch „Mirror, Mirror – who you are and who you become” Jugendliche an. Sie eröffnet ihnen, dass wir nur einen kurzen Moment Balance haben, während wir von einem Extrem ins andere wechseln. Vermutlich trifft dies für Jugendliche besonders zu, da die Schwankungen bei ihnen noch wesentlich massiver ausfallen. Als reifere Erwachsene sind wir in der Regel ruhiger und ausgewogener geworden. Aber schon die Balanceversuche unserer erwachsenen Kinder zu beobachten, lässt uns gelegentlich die Luft anhalten.
Kara Powell schreibt: „Glaube nicht, dass du ohne Hilfe von Gott und Freunden ausbalanciert bleiben kannst.“ Das gilt für uns alle. Zum Glück sind wir nicht nur auf uns selbst gestellt. Diese Hilfestellung anzunehmen, schafft eine tiefere Verbindung zu Gott und zu Freunden. Wir müssen nicht verbissen allein balancieren, sondern dürfen die ausgestreckte Hand annehmen. Und gelegentlich sogar um sie bitten. Noch heute balanciere ich gern auf Bordsteinen, Mauern und Kanten. Je schmaler sie sind, desto besser fühlt es sich an, wenn mein Mann mir dabei seine Hand reicht.
So wie die äußere Balance ein Organ braucht – den im Innenohr angelegten Vestibularapparat – braucht auch die innere Balance eine Schaltstelle. Symbolisch gesprochen ist dieses Organ unser Herz. Je unaufgeräumter es in unserem Inneren zugeht, desto instabiler wird auch die Balance in den umgebenden Lebensfragen. Innere Probleme und Ungereimtheiten schaukeln sich sozusagen auf und erzeugen höheren Wellengang. Unsere erste Aufgabe besteht folglich nicht darin, im Außenbereich krampfhaft alles stabil zu erhalten, sondern uns innerlich gut zu verorten. Für mich bedeutet das, möglichst aus dem inneren Frieden zu leben, mich bewusst Gottes Hand anzuvertrauen und unrealistische Ansprüche an mich selbst und andere loszulassen. Das erscheint mir als die beste Vorbereitung für verunsichernde Lebensmomente.

Krisen – nicht immer vorhersehbar

Wann haben Sie als Paar oder als Einzelpersonen zum letzten Mal das Gefühl gehabt, aus dem Gleichgewicht zu geraten? Vielleicht gönnen Sie sich eine Pause und denken einen Moment darüber nach. Um welches Thema ging es damals? Was war Ihre Strategie, damit umzugehen? Hat es Sie als Paar zusammengebracht, oder war es eine echte Belastungsprobe für die Beziehung? Wie ist es danach weitergegangen? Und wie ist Ihr Blick im Nachhinein auf diese Situation?
Auf vorhersehbare Krisen können wir uns immerhin ganz gut einstellen. Dazu gehören die Veränderungen, die das erste Kind in die Dynamik der Partnerschaft bringt, circa 20 Jahre später dann das leere Nest und nach einer weiteren Lebensetappe der Übergang in die Pensionierung. Diese Ereignisse sind mit den Getränken vergleichbar, die der Kellner vorausschauend auf sein Tablett stellt.
Unvorhersehbare Krisen sind weit schwerer abzufangen. Sie erfordern eine Reaktion, auf die wir uns nicht vorbereiten konnten. Plötzlich kommt etwas auf unser „Tablett“, das die Balance gefährdet. Oder unvermittelt wird uns etwas genommen. Vielleicht ist ein Elternteil überraschend gestorben. Oder Sie haben erfahren, dass Ihr erwachsenes Kind das Studium geschmissen hat. Unabhängig von den Geschehnissen im weiteren Familienkreis kann auch jederzeit eine persönliche gesundheitliche oder wirtschaftliche Krise eintreten. Was kann uns dann helfen?
Im besten Falle sind Werte und Sinnfragen schon vorher geklärt. Wir brauchen eine stabile Basis. Jede Kellnerin legt sich als Erstes stabile Schuhe zu. Wenn ich weiß, für welche Werte ich lebe, lasse ich mich in einer Krise nicht dauerhaft lähmen. Werte wie Familie, Gottvertrauen oder Interesse für andere könne helfen, innerlich bald wieder den Kurs zu finden. Was ist der Sinn Ihres Lebens? Obwohl die Fürsorge für die Kinder mit Recht einen hohen Stellenrang einnimmt, sollte sich der Lebenssinn nicht darin erschöpfen. Sonst machen wir die Probleme unserer heranwachsenden Kinder zwangsläufig zu unseren eigenen Problemen.

Finger weg vom Tablett!

Hier kann uns das Bild vom Tablett noch einmal helfen: Wenn unsere großen Kinder irgendetwas „balancieren“, dann brauchen sie nicht unsere eingreifende Hand, sondern unser Vertrauen. So können sie auf eigene Weise Lösungen finden, selbst falls etwas zu Bruch geht. Der beste Platz für uns wäre im wohlwollenden Abstand. Jedes Mal, wenn wir aufs Tablett eines anderen greifen, erschweren wir für ihn die Balance. Und wir kümmern uns um Dinge, für die wir nicht zuständig sind. Denn jeder trägt selbst die Verantwortung für sein Leben und trainiert seine Fähigkeiten auch durch Übung und Fehlschläge. Dies gilt nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für Eltern, Geschwister und Freunde.

Unsere Aufgabe ist es, unsere eigenen Angelegenheiten zu händeln. Dazu kann es gehören, uns zu fragen, was uns Halt gibt. Oder wer uns weiterhelfen kann, damit wir wieder stabil stehen. Anschließend sind wir wieder in der Lage zu schauen, was wir jetzt tun können, um unsere Lieben zu unterstützen und zu bestärken.
Lassen Sie uns auch auf unsere Gedanken und Worte achten. Bewerten wir das aktuelle Problem als Katastrophe oder als eine Herausforderung? Sagen Sie nicht: „Ich würde es nie aushalten, wenn ...“ oder „Das wäre die absolute Katastrophe!“ Sonst ist Ihr Tablett schnell in Schieflage. Forschungen besagen, dass jeder Tag zu 80 Prozent aus Herausforderungen besteht. Die meisten davon können wir sehr gut lösen. Vertrauen Sie mutig auf Ihre Fähigkeiten, selbst schwierigen Lebenssituationen gewachsen zu sein. Achten Sie darauf, nicht isoliert dazustehen, sondern ein Unterstützernetzwerk um sich zu haben. Dazu zählen alle Menschen, denen Sie vertrauen und vor denen Sie sich öffnen können. Und vertrauen Sie auf Gott, der die Bedürfnisse und Nöte jedes Menschen im Blick hat und sich gern um Hilfe bitten lässt.

 

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