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Der Christliche Glaube in Beratungen – Chancen und Risiken

Lichtblick - Magazin für praktizierte Individualpsychologie - Sept. 2022

Aus ihrer eigenen Erfahrung als Psychologische Beraterin heraus stellt Christina Ott Chancen und Risiken vor.

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Sind Personen mit einem starken Selbstverständnis ihres Glaubens eine Zielgruppe für die IP? Definitiv, denn in ihrem Leben gibt es die gleichen Herausforderungen wie bei allen anderen Menschen. Die Vorbehalte gegenüber Psychologie haben in diesen Kreisen länger überdauert, doch nun schwinden sie auch dort. Meist halten christliche Ratsuchende nach beratenden Personen Ausschau, die ihrem Glauben mit höchster Achtung gegenüberstehen. Bevorzugt werden Berater:innen, die selbst Christ:innen sind und eine persönliche Innensicht des Glaubens mitbringen.

Aus meiner Erfahrung in diesem Bereich möchte ich einige Beobachtungen teilen. In den vergangenen Jahren durfte ich hunderte von Beratungsgesprächen führen. Die überwiegende Mehrheit meiner Klientel in Ostdeutschland waren Menschen, für die Glauben keine Rolle spielte. In diesem Setting konnte ich mein Handwerk von der Pike auf trainieren. Parallel dazu durfte ich auch immer wieder Menschen begleiten, für die der christliche Glaube essenziell wichtig ist, oft sogar das Wichtigste im Leben überhaupt. Ich selbst verstehe den christlichen Glauben nicht als Lehrgebäude oder pure Sozialisation, sondern als erlebbare Gottesbeziehung. Als Referentin und durch Gremienarbeit hatte ich mit den unterschiedlichsten christlichen Settings zu tun und meine, einen recht guten Einblick in Vorbehalte und Erwartungen christlicher Menschen an Beratung zu haben. Gleichzeitig ist natürlich meine Sicht nicht allumfassend.

Was suchen christliche Klient:innen?

Gläubige Menschen scheuen sich oft, „weltliche“ Beratung in Anspruch zu nehmen. Von außen betrachtet mag das eigenwillig wirken. Doch mit den Augen desjenigen gesehen wird es verständlicher. Christ:innen befürchten, dass ihr Glaube belächelt oder gar in Frage gestellt wird. Für viele christliche Ratsuchende ist der Glaube ein wesentlicher Teil ihrer Existenz und ihres Selbstverständnisses. Sie möchten nicht, dass ihr Glaube lediglich als Projektion abgetan wird. In einem solchen Setting ist die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses, welches für Beratung unverzichtbar ist, von vorn herein erheblich erschwert. Dies ist nicht verwunderlich, denn wir alle reagieren empfindlich, wenn unsere wichtigsten Werte negiert oder angegriffen werden. Der christliche Glaube ist für viele der höchste Wert.

Christliche Klient:innen schätzen es, wenn Beratende ihren „Stallgeruch“ verstehen. Dazu gehört, dass sie Glaubensaussagen, biblische Zusammenhänge, Denkweisen und auch Stolpersteine kennen. Dieser Stallgeruch lässt sich für mich am ehesten mit der Muttersprache vergleichen. Auch in anderen BeraterKlientenKontexten ist es immer von Vorteil, wenn von beiden die gleiche Sprache gesprochen wird und sie den gleichen kulturellen Hintergrund haben. Außerdem können seelsorgerliche Elemente im Beratungsprozess ihren Platz haben. Dazu zählen Gebet und gemeinsam nach dem Willen Gottes in dieser Situation zu suchen.

Sensibles Nachfragen

Natürlich können auch Beraterinnen und Berater, die nicht aus dem Glaubensumfeld kommen, nachfragen. Damit lassen sich Hürden beim Verstehen überbrücken. In anderen Bereichen, in denen wir unbeleckt sind, gehen wir als Beratende ebenso vor. Doch es gibt einen Unterschied, der sollte im Hinterkopf präsent sein: Es handelt sich bei der Glaubensausprägung eines Klienten oder einer Klientin nicht um eine berufliche Sonderspezialisierung oder ein exotisches Hobby, sondern um eine grundsätzliche Lebensweise, einen Kernteil der Identität. Neben Verstehensfragen sind Fragen nach der Bedeutung besonders erhellend. Zivit Abramson führt inihrem gleichnamigen Buch Grundbegriffe der Individualpsychologie von Alfred Adler an solche Frage heran. Sie können lauten: „Was meinst du damit?“; „Was bedeutet das?“; „Was heißt das für dich?“; „Wie fühlst du dich dabei?“. Oder nach Carl Rogers: „Ich höre Sie sagen ..., erzählen Sie mir mehr darüber.“ Der erfahrene Berater oder die erfahrene Beraterin wird auf diesem Weg ausreichend Auskunft bekommen über die private Logik der Klientin oder des Klienten. Die Beratung von christlichen Menschen folgt prinzipiell den gleichen Schritten:

  • Beziehung herstellen und halten
  • Psychologische Analyse
  • Transfer der Erkenntnisse
  • Neuorientierung

Für jede:n Klient:in braucht es dafür ein angepasstes Vorgehen in Tempo, Gangart, Ton und geeigneten Techniken. Bei gläubigen Klient:innen erfrage ich, ob und wie sie den Bereich des Glaubens in den Beratungsprozess einbeziehen möchten. Für manche Klient:innen ist die Beratungseinheit erst komplett mit einem abschließenden Gebet. Auf diese Bedürfnisse stelle ich mich gern ein.

Ein wesentliches Element zum Verständnis eines gläubigen Ratsuchenden ist seine oder ihre Sicht auf Gott. Neben der Sicht auf sich selbst, auf andere und auf die Welt sollte sie mit erfragt werden, um das privatlogische Überzeugungsund Handlungsmuster („Deswegen muss ich ...“) richtig zu erfassen.

Besondere Chancen

Der Glaube ist unbestritten eine umfassende und breit gefächerte Ressource, aus der die Klient:innen schöpfen können. Als selbst gläubiger Mensch sage ich, er ist mehr als nur das. Für den oder die Gläubige:n ist Gott eine real wirkende Kraft von außen. Diese Kraft umschließt auch den Beratungsprozess.

Ein weiteres großes Plus sehe ich in der existenziellen Ermutigung. Diese umfassende Annahme einer Person mit ihrem gesamten Sein wird dem Menschen üblicherweise nur als Baby und in der Verliebtheit geschenkt. In den Zusagen des Glaubens ist dieses bedingungslose Ja zu jedem Menschen immer da, vom ersten bis zum letzten Augenblick des Lebens. Für Christen hat der Gott der Bibel höchste Autorität. Im Einklang mit biblischen Gesamtaussagen zu beraten, erhöht das Verständnis des Klienten oder der Klientin und manchmal wird dies auch als Gottes Führung erlebt. Dadurch sind Ratsuchende motiviert, sich auf den Prozess einzulassen.

Der Glaube kann in bestimmten Fragetechniken genutzt werden, um Unverstandenes sichtbar zu machen. Beispielsweise:

  • „Wenn Gott dir in deiner Situation einen Brief schreiben würde, was meinst du, würde er dir schreiben? Würdest du den Brief öffnen wollen? Was würdest du dann vermutlich tun?“
  • „Wenn du für eure Ehe betest, was genau sagst du dann?“
  • „Was ist deine liebste Bibelgeschichte? Wenn du an dieser Szene beteiligt wärst, welchen Platz würdest du einnehmen? Was erfährst du daraus über dich selbst?“
Erschwerende Risiken

Neben den Chancen gibt es auch einige Risiken und Fallen. Angefangen beim manipulativen und ungesunden Klima aller Schattierungen, welches mitunter in christlichen Familien und Gemeinden wirkt. Häufig haben Klient:innen prägende, negative Erfahrungen dieser Art im Gepäck.

Das eigene Gottesbild und Gott als höchste Autorität vermischen sich leicht. Oft ist Klient:innen nur häppchenweise vermittelbar, dass ihr Gottesbild ein Spiegel der eigenen Sichtweise ist. Dass nicht Gott als höchste Autorität in Frage gestellt wird, sondern nur ihre Interpretation dieser Autorität, kann man nicht oft genug betonen.

Viele Christ:innen erleben einen inneren Konflikt der besonderen Ausprägung, weil geistliche Überzeugungen und ihre gelebte Praxis auseinanderklaffen. Für Menschen, die sich permanent als Sünder sehen, kann es eine riesige Hürde sein, den grundlegenden IPSatz ehrlich zu sprechen: „So wie ich bin, bin ich gut genug“.

Manche gläubige Klient:innen delegieren die Verantwortung für ihr Leben zu simpel an Gott. Sie wollen vorrangig durch Gebet Änderung erreichen. Diese Haltung ist oft tief verankert und wird als Ausdruck des Glaubens interpretiert. Doch Gott macht nicht unsere Hausaufgaben. Es braucht Fingerspitzengefühl und Geduld, dies zu vermitteln. Meine Lieblingsfrage dazu lautet: „Was meinen Sie? Was ist in dieser Situation Gottes Aufgabe und was ist Ihre eigene?“ Schon allein diese Fragestellung öffnet ein Fenster für die Neuorientierung.

Was noch?

Ja – Christen neigen dazu, in „FreundeslandFeindesland“Kategorien zu denken.
Ja – sie sind besonders anfällig für moralische Überlegenheit.
Ja – sie können ganz schön stur sein mit dem, was sie für richtig halten.
Ja – sie haben oft Schwierigkeiten damit, ein gesundes IchBewusstsein zu erlangen.
Ja – sie neigen zu übertriebenen Schuldgefühlen.
Ja – sie können die Fürsorge für andere leicht übertreiben.

Darüber hinaus sind sie ein liebenswertes Völkchen. Sie zu beraten und für Reifungsprozesse zu gewinnen, ist eine lohnenswerte Aufgabe. Wie immer in der Beratung gilt auch hier: sich selbst rechtzeitig Unterstützung holen und Klient:innen bei Bedarf an Fachkräfte weiterleiten.

Der Glaube ist unbestritten eine umfassende und breit gefächerte Ressource, aus der die KlientInnen schöpfen können. Als selbst gläubiger Mensch sage ich, er ist mehr als nur das. Für den Gläubigen ist Gott eine real wirkende Kraft von außen. Diese Kraft umschließt auch den Beratungsprozess.

(Renommierte Fachkliniken, welche sich auf diese Patientengruppe spezialisiert haben:

  • Klinik Hohe Mark, Oberursel,
    Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Suchtmedizin
  • de’ignis-Fachklinik, Schwarzwald, Psychotherapeutische Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen stationär und ambulant/teilstationär)
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