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Noch einmal ganz neu anfangen

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Lichtblick - Magazin für praktizierte Individualpsychologie - März 2022

Christina und Johannes Ott zogen im Sommer 2021 aus beruflichen Gründen von Thüringen nach Franken. Christina beschreibt in Lichtblick, dem Magazin für Individualpsychologie, wie es ihr mit diesem tiefen Einschnitt ergangen ist.

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Noch einmal ganz neu anfangen

Gefragt nach dem Prozess unseres Abschieds und Neubeginns wage ich es, in den Rückspiegel zu schauen. Eigentlich ist es dafür noch zu früh. Was sind schon sechs Monate Zeit nach einer existenziellen Lebensveränderung? Genauso lange – oder kurz - ist unser erneuter Umzug her. Diesmal von Ost nach West, von Thüringen nach Franken. Mit Mitte Fünfzig haben wir gemeinsam zum vierten Mal neu angefangen. Diesmal betraf die Veränderung auch meine Selbständigkeit als Psychologische Beraterin. Statt des beschaulichen Fachwerkstädtchens Schmalkalden im Thüringer Wald ist jetzt die pulsierende Großstadt Nürnberg unser Standort. Wir sind noch mittendrin in diesem dynamischen Prozess. Wenn ich zurückblicke, kann ich einige markante Punkte benennen:

Taub stellen als erster Impuls Als die Anfrage kam, ob mein Mann die Pastorenstelle in einer Nürnberger Gemeinde übernehmen würde, ließ ich diese Schallwellen einfach an mir abprallen. Johannes berichtete mir durchs Telefon davon. Ich war gerade in einer Arbeitsaufgabe und konzentrierte mich auf sie. Doch eine gewisse Beklemmung machte sich breit. Ich dachte: Nur jetzt nicht verrückt machen lassen. Vielleicht geht es einfach vorüber. Es ist in unserem Lebensplan nicht vorgesehen und so soll es auch bleiben!

Und-wenn-doch? - Gedanken Ein paar Tage später traute ich mich, die innerlich zugehaltene Tür einen Spaltbreit zu öffnen. Was wäre wenn? Wer kann wissen, ob es nicht doch ein guter Weg wäre? Welches Für und Wider gäbe es und welche Chancen könnten sich eröffnen? Mein persönliches Verständnis von Wegführung aus einer himmlischen Perspektive, die weiser ist als unsere kleine Sicht, half mir, mich immer mehr darauf einzulassen. Prompt nahm ich ermutigende Details wahr, die mein „Unmöglich“ im Kopf entkräfteten.

Halt suchen „Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung“, so sagte Heraklit. Wie wahr. Gerade deshalb suchte ich Halt in dem, was verlässlich bestehen bleibt und sich nicht verändern wird. Für mich sind das die Jahreszeiten und mutmachende Zitate. Auch in Nürnberg werden Amseln den Frühling begrüßen. So tröstete ich mich, während ich noch in Schmalkalden ihrem Gesang lauschte.

Unterstützungsnetzwerk stabilisieren Wir bezogen Menschen in unsere Überlegungen ein, von denen wir wussten: sie werden respektvoll mit der Information umgehen. Sie werden uns weder drängen noch bremsen, sondern die richtigen Fragen stellen. Sie werden prüfen, ob wir unseren Werten entsprechend entscheiden und für uns beten. Diese kleine Anzahl von zuverlässigen Menschen war uns eine unersetzliche Stütze.

Eine Entscheidung treffen und nicht mehr diskutieren Nach reiflicher Prüfung aller Umstände und dem Kennenlernen der wichtigsten Bezugspersonen trafen wir unsere Entscheidung. Einstimmig. Ich verspürte eine gewisse Feierlichkeit und Würde an diesem Tag, als wir festmachten, was wir beide schon wussten: Ja, wir werden gehen. Dieses Ja zogen wir nicht wieder in Zweifel.

Notwendige Schritte in einem angemessenen Tempo einleiten Wir legten den Zeitpunkt fest, von dem an wir unsere Entscheidung öffentlich machen wollten. Es sollte weder zu spät noch zu früh erfolgen. Das war mir auch wichtig, um meine Klientel nicht unnötig zu verunsichern. Ich legte fest, bis zu welchem Monat ich neue KlientInnen annehmen werde und ab wann ich die Tätigkeit beende. Diese Klarheit half mir enorm in der Kommunikation. Auch alle anderen notwendigen Schritte gingen wir lieber langfristig an.

Hilfreiche Erkenntnisse einbauen in unseren Erzählstrang Nach außen sah unser Prozess vermutlich souverän aus. In der Selbststeuerung kostete er mich einige Mühe. Zum Glück blitzen immer wieder hilfreiche Gedanken im Alltag auf, die wie kleine Rettungsringe wirkten. Deshalb bauten wir sie bewusst in unsere Denk- und Erzählweise ein. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass Lebensumstände sich nicht immer weiter übertrumpfen müssen. Für Zwölf Jahre einen idyllischen Gartenpavillon im Grünen gehabt zu haben, war doch eine überaus üppige Zugabe zum Glücklich sein. In der Stadt werden wir dafür anderes genießen.

Sich mental einstellen Mir vorzustellen, wie der Umzugstag bestmöglich ablaufen kann, war für mich besonders wichtig. Ich wollte händchenhaltend mit meinem Mann im PKW sitzen, anstatt ihm tränenblinzelnd im Zweitwagen zu folgen. Gesagt, getan. Wir verkauften unser zweites Auto. In der Großstadt wäre es sowieso überflüssig.

Hilfe annehmen Für Abschied und Neuanfang bekamen wir großartige Hilfsangebote. Wir nahmen sie dankbar an. Gute Freunde halfen uns, die Harmonie unseres behaglichen Zuhauses auseinander zu nehmen und in Kartons zu verstauen. Als Menschenkenner und IP Kollegen verpflasterten sie parallel dazu auch unsere Herzen.

Einfach gehen Beim letzten Umzug vor 12 Jahren überschwemmten mich viele Gefühle. Nicht alle davon waren angemessen. Damals kannten wir die IP noch nicht. Diesmal konnte ich einfach gehen, ohne es zu dramatisieren.

Angenehme Überraschungen höher bewerten, als unangenehme Kann man sich auf diese Spur bringen? Ja, es funktioniert. Mit offenen Augen für die sonnendurchfluteten Räume in der neuen Wohnung. Auch mit offenen Herzen für die Menschen der Gemeinde. Sie hatten sich außergewöhnlich ins Zeug gelegt, um unsere Dienstwohnung entsprechend auf Vordermann zu bringen und uns warmherzig willkommen zu heißen.

Nest bauen und orientieren Die ersten Tage und Wochen glichen einem Dauerarbeitseinsatz. Doch wir sind ein gutes Team und unsere Fähigkeiten ergänzen sich. Deshalb war schon bald wieder Übersicht geschaffen. Sogar meine wichtige Routine des Morgenspazierganges startete wieder. Der nahe Stadtpark machte es mir leicht. Nur für meine Beratungsräume brauchte ich noch einen langen Atem.

Konstante überregionale Aufgaben beibehalten Einige überregionale Aufgaben als Referentin und Autorin konnte ich fortführen. Auch als Supervisorin eines Schmalkalder Kinderheims verlängerte ich den Vertrag. Dadurch konnte ich weiter in meinem Bereich aktiv sein, und parallel ein neues Netzwerk aufbauen. Es fühlte sich vertraut an, in bekannte Gruppen zu kommen oder mit meiner Kooperationspartnerin zu arbeiten. Diese Kontinuität tat mir inmitten aller neuen Erfahrungen gut.

In Beziehungen investieren Heimisch werde ich immer erst durch Beziehungen, deshalb haben Kontakte eine hohe Priorität für uns. Ehrliches Interesse ist die Eintrittskarte ins Leben von Menschen. Das zeigte sich in jeder Art der Begegnung und ließ mir keinen Raum für Selbstmitleid.

Arbeiten im neuen Raum Endlich betrat dann die erste Klientin meinen neuen Raum. „Oh, ist es schön bei Ihnen“, sagte sie. Ja, das stimmt. In diesen Räumen werde ich gut arbeiten können.

Vom Rhythmus des Lebens

„Say goodbye - let go - move forward – explore – arrive – hold“. Diese Körperübung (verabschieden - loslassen - bewegen - erkunden - ankommen - verharren) lehrte uns Pauline Hofstra bei ICASSI 2018/Bonn. Als Teilnehmende ihres Workshops sollten wir langsam im Kreis gehen und eine Übung machen. Während Pauline rhythmisch diese Worte wiederholte, spürten wir in unsere Füße. Zuerst den Bodenkontakt spüren - dann Ferse heben - Fuß in der Luft vorwärtsbewegen - mit Zehenspitzen den neuen Boden ertasten – mit ganzer Sohle ankommen – ruhen. Und weiter ging es mit dem anderen Fuß. Say goodbye… Das ist der Rhythmus unseres Lebens, im Großen wie im Kleinen. Und so habe ich es auch im Umzugsprozess erlebt. Das Ausharren vorm nächsten Schritt war schon bei der Übung meine Schwierigkeit. Auch in der Realität kam es in den letzten Monaten zu kurz. Ich werde mir demnächst ein wenig Ruhe gönnen. Unser neues Sofa ist dafür bestens geeignet. So bequem konnte ich noch nie in meinem Leben sitzen oder liegen. Genau das werde ich jetzt tun und mir eine Ruhepause gönnen. Ich halte inne, denn genau hier spielt sich jetzt unser Leben ab. Und das ist gut so.

Dass ich mitten im Loslassen des alten Lebens noch für einige Monate eine herausfordernde Aufgabe übernahm, wäre eine ganz andere Geschichte. Sie sprengt hier den Rahmen, doch gehört unlösbar zu meinem Prozess. Anfang 2021 bis kurz vorm Umzug wurde ich Beraterin auf der Covid Station eines Krankenhauses. Das lenkte mich ab vom Abschiedsschmerz und zog meine Aufmerksamkeit ins Jetzt. In den überraschendsten Wegführungen können die größten Schätze liegen. Deshalb sind wir gespannt, was uns in Zukunft noch erwartet.

"Ich setzte den Fuß in die Luft. Und sie trug." Hilde Domin

 

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