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Unvollkommen glücklich - Wie meine Identität gelassen reifen kann

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Magazin für Gemeinden und Gemeinschaften - August 2023

 

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Und unsere Identität wird nicht großartiger durch „Performance“.  Also durch alles, was mit Leistung, Selbstdarstellung und dem perfekten Auftritt zu tun hat. Nein, stattdessen reift Identität am Gegenüber. Sie entfaltet sich in der Reflexion der erfahrenen Höhen und Tiefen. Lebenslang begleitet Gott, unser Schöpfer, liebevoll diesen Prozess. Er greift korrigierend ein, damit wir uns seinen himmlischen Absichten entsprechend entwickeln können. Wenn wir doch damit einfach zufrieden sein könnten…

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Wer bin ich?

Zum ersten Mal ging mir das unsichere Tasten nach Identität als Siebzehnjährige so richtig unter die Haut. Es war im Jungendkreis der Landeskirchlichen Gemeinschaft Dresden. Elektrisiert lauschte ich dem Text von Dietrich Bonhoeffer: „Wer bin ich? Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen, oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“ Mein Herz pochte laut als die Frage nachhallte. Bonhoeffer sagte, was ich selbst empfand und worauf ich mit meiner jugendlichen Identität-Suche keine Antwort fand. Erlösend klang sein Schlusssatz: „Wer ich auch bin – du kennst mich. Dein bin ich. Oh Gott!“. Es fühlte sich an wie der harmonische Schlussakkord am Ende eines verwirrenden Musikstückes voller Dissonanzen. Mein Puls beruhigte sich. 
Heute - fast vierzig Jahre später - weiß ich, dass ich weder die Eine noch die Andere bin. Sondern beides gleichzeitig. Oder nacheinander. Ich bewege mich in einem Spannungsfeld der persönlichen Entwicklung. Dieser Prozess ist noch lange nicht zu Ende und der himmlische Vater hat seine Hände dabei so sehr im Spiel, wie ich ihn an mir arbeiten lasse. 
Die Frage nach unserer Identität läuft zwar ein Leben lang mit, doch sie erreicht selten unser Bewusstsein. Kurioser Weise können wir besser unsere Wohnung beschreiben als die Personen, die darin leben – nämlich uns selbst. Unser Sein bleibt ein Geheimnis, deshalb nennen wir viel lieber äußere Eckdaten wie Alter, Beruf oder Familienstand. Mit diesen festen Größen sind wir wenigstens auf sicherem Terrain.

„Edentität“ – Vom Ursprung der Identität

Diese Kapitelüberschrift gehört zum neuen Buch, das meine Freundin Valerie Lill und ich gerade gemeinsam geschrieben haben. Ist Identität uns gegeben, oder müssen wir sie selbst schaffen? Im Dialog suchen wir darüber Klarheit. Überraschenderweise scheint beides zuzutreffen. Doch schon der wunderbare Begriff „Edentität“, den meine Mitautorin prägte, enthält ein Stück Antwort.

„Deine augenzwinkernde Idee im letzten Brief, von „Edentität“ zu sprechen, hat für mich ein riesiges Fenster geöffnet. Was für eine geniale Kombination! Mit Eden verbinde ich die Worte vollkommen und ursprünglich. In mir meldet sich die leise Ahnung, dass wir über diesen Zugang unser Sein und unsere Bestimmung leichter ausloten können als nur über den Begriff der Identität. Wollen wir das mal gemeinsam durchspielen? Es würde mich brennend interessieren, auf welche Goldadern wir dabei stoßen! 
Die Sache mit der Identität ist ziemlich schillernd und schwer greifbar. Paradoxerweise scheint sie sogar in immer weitere Ferne zu rücken, je mehr wir krampfhaft nach ihr suchen. Ist das eine Krankheit des modernen Menschseins? Identität kann doch keine Fata Morgana sein! Sie ist wichtig für unser Selbstverständnis. Und auch für unser Lebensziel.“ 


Tatsächlich haben wir einige Goldadern gefunden, die im Buch nachzulesen sind ;-) 

Unvollkommenheit können wir nicht abschütteln

Der Garten Eden war vollkommen – doch wir sind es ganz und gar nicht! Die Unvollkommenheit gehört zu unserem Menschsein. Wir sind lückenhaft und schuldverstrickt. Jedes Streben nach Perfektion zeigt das Aufbegehren gegen diese Lebenswahrheit und kann nur in die Sackgasse führen. Wie befreiend ist es, Jesus Christus im vollen Wissen um unsere Unvollkommenheit nachzufolgen. Seine Jünger waren ja tatsächlich auch keine makellosen Vorzeigeobjekte, sondern ein bunt gemischter Haufen von eigenwilligen Typen. Charakterpersonen mit Grenzen, Macken und ihrer persönlichen Geschichte. Genau so und genau deshalb hat Jesus sie in seine Nachfolge gerufen: Damit sie ihm ähnlicher werden. Und um sie als authentische Jesuszeugen zu den Menschen zu senden, die nach Identität, nach Sinn und Halt in ihrem Leben suchen. 

Das Potential in Menschen 

Im Nabelschnurblut jedes Neugeborenen befinden sich unzählige potente und vitale Stammzellen.  Genauso ist das gesamte Menschenkind ein Powerpaket mit Entwicklungspotential in jede Richtung. Jedes Kind ist vom Schöpfer ausgestattet mit unendlichen Möglichkeiten, von ihm gewollt und geliebt. Sein Ich ist bejaht, bevor es überhaupt einen Satz in der Ich-Form sprechen kann. 
Gott wartete darauf, dass wir unser Potential entfalten. Parallel dazu bildet sich auch unsere Identität aus. Dazu brauchen wir andere Menschen, auch solche mit scharfen Konturen, um uns an ihnen zu entwickeln. Doch wir sollten unsere Identität nicht vom Urteil anderer abhängig machen.  Wir brauchen den Mut, unterschiedlichste Erfahrung zu machen und daraus zu lernen. Henry Nouwen ermutigt uns, die Identität „als freies Selbst“ in Anspruch zu nehmen. Und eines sollen wir nie vergessen: „Du bist ein Kind Gottes, das ist deine wahre Identität.“ Auf dieser Basis ruhen alle anderen Identitätsbausteine.

Unvollkommen? Ja gern!

Wir sind frei, uns zu entwickeln und gerufen, etwas zu bewirken. Eines meiner Lieblingszitate stammt von John Henry Newmann (1801-1890): "Ich bin berufen, etwas zu tun oder zu sein, wofür kein anderer berufen ist. Ich habe einen Platz in Gottes Plan, auf Gottes Erde, den kein anderer hat. Gott kennt mich und ruft mich bei meinem Namen.“  Gott geht es nicht um vollkommene Vorzeigechristen, sondern um echte Menschen, die sich von ihm gebrauchen lassen. Also bin ich mit allen Ecken und Kanten eine unvollkommene Mitspielerin in Gottes großem Orchester.

  
Quelle: Die innere Stimme, Henri J.M. Nouwen, S. 21 „Denn so lange du dich erinnern kannst, hast du alles getan, um zu gefallen. Du hast deine Identität vom Urteil anderer abhängig gemacht.“

 

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